Der Staat, die Autonomen und der Archivar der Jugendfrisuren

Das folgende Interview führte Klaus Farin für die Sommer-Ausgabe des Zines Red Alert (2011).

Der Staat, die Autonomen und der Archivar der Jugendfrisuren

Das Archiv der Jugendkulturen erhält Geld aus dem Anti-Linksextremismus-Fördertopf der Initiative „Demokratie stärken“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Frau Schröder. Gleichzeitig hast Du die Protest- und Solidaritätsresolution dagegen aus Sachsen unterzeichnet. Ist das nicht ein Widerspruch?

Farin: Nein. Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung von Projekten, auf Fördergelder zu verzichten, wenn die Bedingungen zu den Zielsetzungen ihrer Arbeit im Widerspruch stehen. Und ich halte diese geforderte Erklärung des Ministeriums nach wie vor für völlig unsinnig.

Trotzdem hast Du sie unterschrieben!?

Farin: Jeder, der zum Beispiel vom Berliner Senat gefördert wird, wie wir beispielsweise vom Integrationsbeauftragten, muss seit Jahren immer wieder die Erklärung unterzeichnen, dass er nicht für Scientology oder mit den Methoden von Scientology arbeitet. Ich halte auch das für völlig absurd, aber ohne ein Autogramm unter diese Erklärung gibt es kein Geld und deshalb unterschreibe ich das alljährlich – wie alle anderen auch. In diesem Fall hatte ich auch die Wahl, die Erklärung zu unterschreiben oder unserer Bibliothekarin zu kündigen und sie in Hartz 4 zurück zu schicken, weil ich sie ohne die Projektförderung nicht bezahlen könnte.

Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, Staatsknete zu nehmen, das geht gar nicht. Aber dann sollte man auch konsequenterweise die Folgen akzeptieren. Zum Beispiel müssten drei Viertel aller Jugendklubs in diesem Land schließen, würden sie auf staatliche Förderung verzichten. Auch viele antifaschistische und antirassistische Initiativen und Projekte wie das apabiz, Aktion Courage – Schule ohne Rassismus, Miteinander e. V. in Sachsen-Anhalt etc. würden eingehen. Vor drei Jahren gab es einen Aufschrei der Empörung, weil die Bundesregierung die Opferperspektive nicht mehr fördern wollte, also Projekte, die Opfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt unterstützten, weil diese aus einem konsequenten antifaschistischen Verständnis heraus handelten und ihre Mitstreiter logischerweise oft aus linken Zusammenhängen rekrutierten. Zu Recht! Der Staat hat solche Gruppen, letztlich auch seine eigene Opposition, zu fördern. Der Staat gehört nicht der CDU oder der aktuellen Bundesregierung. Deshalb bin ich der Meinung, antifaschistische und explizit staatskritische Initiativen sollten auch weiterhin Projektanträge stellen, weil sonst viele zivilgesellschaftlich wichtige Initiativen und Projekte nicht realisiert würden. Deshalb werde ich auch weiterhin von dieser Bundesregierung eine Regelförderung für das Archiv der Jugendkulturen fordern.

Aber die Unterzeichnung dieser Erklärung wirkt sich doch sicher auf Eure praktische Arbeit aus, zum Beispiel, indem sie Euch vorschreibt, mit wem Ihr zusammenarbeiten dürft …

Farin: Nein. Diese Erklärung ist ein Stück Papier, mehr nicht. Regierungen entwickeln schon immer unsinnige Projekttitel und -lyrik für ihre Fördermaßnahmen und verknüpfen diese mit unsinnigen Procederes und absurden Forderungen. Das unterschreibt man halt und kümmert sich nicht weiter darum. Entscheidend ist doch, welche inhaltliche Arbeit man leistet und dass man seine Inhalte selbst definiert. Wenn dies bei einem Projekt nicht möglich ist, sollte man in der Tat auf staatliche Förderung verzichten. Deshalb achte ich auch darauf, dass wir uns nie von nur einem einzigen Förderer abhängig machen. Zur Not geht’s auch ohne – dann haben wir eben wie zu Beginn keinen einzigen Hauptamtlichen mehr. Beim Archiv der Jugendkulturen hat prinzipiell kein Förderer Einfluss auf unsere inhaltliche Ausrichtung. Wir überlegen uns selbst, was wir machen wollen, entwickeln die Ideen für Forschungs- oder Publikationsprojekte und suchen uns dann finanzielle Unterstützer, da wir selbst ja bisher über keine Eigenmittel verfügen.

Aber die machen das doch nicht umsonst …

Farin: Natürlich nicht. Und sie haben auch Erfolg: Mir fällt zunehmend auf, dass zahlreiche Träger, die noch vor ein, zwei Jahren Projekte gegen Rechtsextremismus durchgeführt haben, heute Projekte gegen „Extremismus“ oder gar „gegen Links- und Rechtsextremismus“ planen. Das „Violence Prevention Network“ beispielsweise, das in unseren Räumen entwickelt wurde, um mit jugendlichen Strafgefangenen aus der rechten Szene zu arbeiten, führt heute ein „Modellprojekt zur Prävention von Linksextremismus am Beispiel der Städte Berlin und Hamburg“ durch. Eine seit Längerem geplante Lehrerhandreichung zum Thema „Rechtsrock“ erscheint jetzt mit dem Fokus „Extremismus und Musik“. Fachtagungen, Lehrerfortbildungen und andere Veranstaltungen werden auffallend öfter zum Titel „Links- und Rechtsextremismus“ angeboten. Das finde ich in der Tat fatal und gefährlich, weil hier die ideologisch motivierten Ziele der Bundesregierung in politische Bildung und Pädagogik umgesetzt werden. Es geht letztlich um den Versuch, die alten „Extremismus“-Kampagnen des Kalten Krieges und der 80er Jahre wiederzubeleben, die seinerzeit hauptsächlich von den „Totalitarismus“-Forschern Backes und Jesse ideologisch gefüttert wurden, Letzterer pikanterweise Redakteur einer Zeitschrift, die einst wegen der Leugnung des Holocaust indiziert und vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde. Vom Archiv der Jugendkulturen wird es jedenfalls niemals ein „Extremismus“- oder gar „Links- und Rechtsextremismus-Projekt“ geben!

Warum machen die Träger das?

Farin: Zum einen, weil diese Geschichtsklitterung von „linken und rechten Extremisten“, die von beiden Seiten gleichermaßen die Demokratie bedrohen, in Deutschland nach wie vor von Vielen geglaubt wird. Sie ist sozusagen offizielle Doktrin der bürgerlichen Mitte von den konservativen Parteien bis weit in die SPD hinein und ein zentrales Agitationsmoment des Verfassungsschutzes in all seinen Publikationen, Ausstellungen etc. Schon Schüler und Schülerinnen lernen das heute im Geschichtsunterricht gleich in der ersten Unterrichtseinheit zur „Gewaltspirale in der Weimarer Republik“. Zum anderen, weil der Projekte-Markt auch ein Riesengeschäft ist. Die florierenden Zeiten der 60er und 70er Jahre, der Aufbauphase der politischen Bildung in Deutschland, mit einer breiten Strukturförderung, sind vorbei. Auch große Träger sind heute gezwungen, ihr Personal, ihre Infrastruktur und ihre Maßnahmen über Projektmittel abzusichern. Also werden immer, wenn sich ein neuer Fördertopf öffnet, Anträge gestellt, ob das Thema nun wirklich in den Kompetenzbereich des Trägers fällt oder nicht. Dabei geht es auch gar nicht um die Inhalte, sondern um den prozentualen Verwaltungsanteil, den der Träger einbehalten darf. Und seit der Gewaltexplosion der 90er Jahre wurden sehr viele staatliche Fördermittel im Bereich Rechtsextremismusprävention investiert: AgAG, Entimon, Vielfalt tut gut, Lokale Aktionspläne (LAPs), Initiative Demokratie stärken, Xenos- und andere Programme etc. Also beantragt ein großer SPD-naher Träger aus NRW viel Geld für eine Fortbildungsreihe zum Thema, bekommt den Zuschlag und ruft dann bei uns an: Wir haben Projektmittel, kennen uns aber gar nicht aus in dem Bereich, können Sie uns nicht geeignete Referenten nennen, da gibt es doch so einen Herrn Heitmüller oder so ähnlich …

Warum lehnst Du inhaltlich die Beschäftigung mit „Links- und Rechtsextremismus“ ab?

Farin: Ich lehne nicht die Beschäftigung damit ab, sondern die dadurch intendierte Gleichsetzung und Fokussierung auf „Extremismus“, die letztendlich eine Verharmlosung des Faschismus bedeutet und ablenken soll von dem Bürgerliche-Mitte-Syndrom der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, wie „Herr Heitmüller“ das treffend benannt hat. Es spricht überhaupt nichts dagegen, links und rechts zu vergleichen. Wer vergleicht, befasst sich wenigstens damit, braucht Wissen, interessiert sich notwendigerweise auch für die Geschichte der Linken, ihre zentralen Ideen, die Motivationen ihrer Aktivisten und Aktivistinnen. Vergleichen ist etwas Anderes als gleichsetzen. Wer sorgfältig „links- und rechtsextrem“ vergleicht, kommt zu dem Ergebnis, dass eine Gleichsetzung absurd ist. Wir reden hier nicht nur von ganz unterschiedlichen Milieus und ideologischen Grundlagen – einmal von einer Ideologie, die im Kern antidemokratisch, rassistisch und nicht kompatibel mit demokratischen Grundwerten ist, zum anderen von einer Vielzahl von Ideologien und Theorien, deren Spektrum von pazifistisch bis stalinistisch, von antiimperialistisch bis antideutsch reicht. Auch die Praxen sind absolut unterschiedlich: Bei Rechtsextremisten ist Gewalt ein zentraler, unverzichtbarer Bestandteil ihrer Lebens- und Weltanschauung, bei jungen Neonazis ist die ausgeübte Gewalt ein identitätsstiftendes Moment ihrer Gruppen; es gibt schlicht keinen einzigen Neonazi, der Gewalt ablehnt. Bei keiner einzigen Mordtat bisher gab es in Neonazi-online-Netzwerken oder anderen internen oder öffentlichen Publikationen eine ernsthafte Auseinandersetzung oder glaubwürdige inhaltliche Distanzierungserklärungen. Im linken und auch linksradikalen Spektrum ist Gewalt vorhanden, aber nicht notwendigerweise festgeschrieben, und nach jeder militanten Aktion gibt es selbst in der autonomen Szene mehr oder weniger offen geführte stunden-, tage-, wochenlange selbstkritische Debatten darüber. Das Spektrum reicht dabei von „Gewalt gegen Staatsorgane und Faschisten ist okay“ über „Nur Gewalt gegen Sachen ist okay“ bis zur Ablehnung jeglicher Gewalt. Politisch intendierte Gewalt muss auch politisch vermittelbar sein, lautet ein stehender Minimalkonsens, und der setzt Grenzen, die Mord- und Totschlag ausschließen. Auch in den extremsten linken Gruppierungen, nicht einmal in terrorismusaffinen Kreisen der Linken existieren Feindbilder gegen ganze Bevölkerungen oder Bevölkerungsgruppen wie bei den Rechten. Nicht zuletzt deswegen wurden in den letzten zwei Jahrzehnten mindestens 150 Menschen von Menschen mit rechtsextremem Hintergrund getötet – das ist mehr als die vierfache Zahl von Menschen, die jemals seit Bestehen der Bundesrepublik von „Linken“ getötet wurden, inklusive aller Toten der RAF.

Was wollt Ihr denn nun mit Eurem von Frau Schröder geförderten Projekt „Die Autonomen“ erreichen? Daten für den Verfassungsschutz sammeln, wie mal auf Indymedia vermutet wurde?

Farin: Sicher nicht. Ich glaube, es ist auch bekannt, dass der Verfassungsschutz bei uns Hausverbot hat und wir die Auflösung dieser oft über ihre Spitzel wissentlich in semikriminelle Zusammenhänge verstrickte und mit einer Demokratie nicht zu vereinbarenden Einrichtung fordern. Wir wissen doch nicht erst seit dem gescheiterten NPD-Verbotsantrag, dass der Verfassungsschutz ein zentraler Aufbauhelfer des Rechtsextremismus in Deutschland ist. Da produziert und vertreibt ein aus Steuergeldern bezahlter Verfassungsschutz-IM ein Album einer Nazi-Band, das dann wieder zum zentralen Anlass dient, diese Band zu verbieten. Und um dem noch eins draufzusetzen, produziert das Amt dann noch eine Ausstellung, in der genau dieses Album wieder als besonders abschreckendes Beispiel des Neonazismus präsentiert wird, und geht damit in Schulen hausieren – auch das ist nebenbei wieder ein klarer Verstoß gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsschutzgesetzes, das den Geheimdienst nicht ermächtigt, politische Bildung mit Minderjährigen in Schulen zu betreiben. Deshalb finde ich persönlich es schade und bedenklich, dass selbst Teile der Grünen und der Linken heute eine Stärkung des Verfassungsschutzes fordern und Positionen wie die von Christian Ströbele, der nach wie vor für eine Abwicklung dieses Amtes eintritt, minoritär geworden sind. Ich bin da konservativ und nach wie vor davon überzeugt, dass eine Ersetzung des Verfassungsschutzes durch ein ziviles, staatsunabhängiges Forschungsinstitut ohne Geheimdienstauftrag als Frühwarnsystem und Aufklärungsinstanz der Demokratie dienlicher ist als ein VS, der seine Erkenntnisse oft mit zweifelhaften Mitteln gewinnt und dann auch noch geheim hält, selbst vor der Polizei und bei Kenntnis von geplanten Straftaten, um seine Informanten nicht zu enttarnen. Jedenfalls die Vorstellung, sich ausgerechnet von dieser Institution beraten zu lassen, ist genauso absurd wie die zweite Idee des Ministeriums, man möchte sich doch an Medienberichten orientieren, um zu erkennen, wer denn „linksextrem“ sei. Auf wessen Erkenntnisse stützen sich Medien wohl, wenn sie jemanden als „linksextrem“ outen?

Aber ganz abgesehen davon ist es auch idiotisch zu glauben, dass 1. Autonome uns Dinge erzählen würden, die für sie selbst oder die Szene gefährlich sind, wo klar ist, dass wir die geführten Interviews veröffentlichen wollen; und 2. der Verfassungsschutz angesichts seines gigantischen Spitzelapparates ausgerechnet uns bräuchte, um Infos aus der autonomen Szene zu erhalten. – Das ist genauso absurd wie umgekehrt auch die in der Szene weit verbreitete paranoide Vorstellung, der Verfassungsschutz sei an jedem einzelnen antifaschistisch oder autonom engagierten Studenten hier im Land ganz besonders interessiert und würde keine Kosten und Mühen scheuen, um sein Telefon, seine E-Mails und seine Kneipenbesuche zu überwachen.

Wir hatten eigentlich schon seit Jahren vor, ein Buchprojekt über die autonome Szene zu machen, so wie wir eben auch über Skinheads, Gothics, Punk usw. gearbeitet haben. Und gerade die Zuspitzung des öffentlichen Diskurses auf „links = rechts“, die absolut klischeehafte Reduzierung der autonomen Szene auf Gewalt, macht dieses Buch meines Erachtens noch wichtiger. Wir haben immer in der Vergangenheit dann Themen aufgegriffen, wenn zum Beispiel eine Szene pauschal stigmatisiert und quasi stellvertretend für die Mehrheitsgesellschaft in die Verantwortung genommen wurde, siehe Skinheads in den 90er Jahren, wo es eigentlich gesellschaftlicher Konsens war, dass alle Skins rechts seien und Skins die Hauptträger des Rassismus in diesem Land seien. Unser Ziel war und ist es, eine differenzierte, möglichst authentische Beschreibung der autonomen Szene zu erarbeiten. Deshalb soll das Buch in erster Linie ein Interview-Band werden, der unzensiert die Haltung und Einstellungen derjenigen dokumentieren soll, die sich dazugehörig fühlen oder fühlten. Aber nicht nur Interviews, sondern auch eigene Beiträge sind sehr erwünscht!

Und der Band erscheint dann in der „Extremismus“-Reihe des Ministeriums mit einem Vorwort von Frau Schröder und redaktionell betreut von deren Mitarbeitern?

Farin: Mit Sicherheit nicht. Der Band ist gar nicht Bestandteil des Projektes und wird erst nach Ablauf der Projektförderung in unserer archiveigenen Buchreihe erscheinen und nur von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Archiv der Jugendkulturen betreut und gestaltet, darunter natürlich auch Angehörige der autonomen Szene.

Warum finanziert das Ministerium das Projekt dann, wenn sie überhaupt nichts dafür kriegen?

Farin: Warum finanziert der Shell-Konzern Jugendstudien, wenn er sich überhaupt nicht für die Inhalte dieser Studien interessiert? Natürlich geht es um PR und Erfolgsbilanzen, wir haben was gemacht. Und wie gesagt um die ideologische Stärkung des „Totalitarismus“-Ansatzes in seiner primitivsten Form. Hannah Arendt würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie hören könnte, wer sich heute alles auf sie beruft. Aber niemand kann ernsthaft annehmen, so ein Ministerium interessiert sich wirklich für die Inhalte der Hunderte von Projekten, die dort Jahr für Jahr gefördert werden. Manchmal wünsche ich mir ja sogar, die Politik würde wenigstens die wissenschaftlichen Studien, die sie selbst in Auftrag gegeben hat, mal lesen, um so ein genaueres Bild der Realität zu bekommen – aber leider passiert das nicht. Wir hatten zudem Glück, dass wir unseren Antrag Ende 2010 spontan und kurzfristig genau in dem Moment eingereicht haben, als sich abzeichnete, dass das Ministerium die im Haushalt eingestellten Mittel nicht loswürde, weil kaum Anträge eingegangen waren – außer solchen wie der von der Jungen Union, die eine Sightseeing-Tour zu den Brutstätten autonomer Gewalt in Kreuzberg beantragt hatten. So bekamen wir sensationell schnell innerhalb von wenigen Tagen eine Zusage. Und das Ministerium bekommt dafür ja was, nämlich das, was jeder und jede andere Interessierte bei einem Besuch unserer Bibliothek auch bekommt: die Rechercheergebnisse unserer Bibliothekarin, Literatur- und unsere Bestandslisten, die hoffentlich ab September in unserer online-Bibliotheksdatenbank für jedermann einzusehen sind (im Augenblick funktioniert die leider nicht, weil sie noch von 2001 ist und komplett überarbeitet werden muss). Und natürlich die Literatur selbst, die wir mit den Projektmitteln anschaffen konnten, die ebenso in unserer Präsenzbibliothek für jedermann öffentlich zugänglich steht. Außerdem organisieren wir eine Fachtagung zum Thema mit diversen wissenschaftlichen ExpertInnen, deren Beiträge das Ministerium auch bekommt. Aber der Vertrag sieht ausdrücklich vor, dass keine personenbezogenen Daten etc. aus der autonomen Szene weitergegeben werden. Nach diesem Prinzip arbeiten wir immer, sonst könnten wir dichtmachen: Das Ministerium oder auch jeder andere Sponsor bekommt nur das, was mit den Interviewpartnern abgesprochen wurde, und von dieser Einschränkung abgesehen sind alle unsere Forschungsansätze und -ergebnisse immer grundsätzlich transparent und öffentlich zugänglich. Das ist schließlich der Sinn unserer Arbeit. Die, um die es geht, selbst zu Wort kommen zu lassen, damit die Mehrheitsgesellschaft die Möglichkeit bekommt, sich ein differenzierteres Bild zu machen. Uns geht es also – ganz konservativ – um Aufklärung.

Wenn Du noch eine persönliche Frage gestattest: Ist das nicht ein weiter Weg vom Antifa-Punk, Haus- und AKW-Bauplatzbesetzer der 70er Jahre zum staatlich gesponserten Projektleiter? Würdest Du Dich eigentlich immer noch als „links“ begreifen?

Farin: Ja, wobei ich immer schon eine große Abneigung gegen Theorien und Ideologien gehabt habe. Ich hab‘ zum Beispiel weder Marx, Engels, Lenin noch Adorno, Habermas, Reich gelesen. Als das in den 70er Jahren innerhalb der Linken cool wurde, hab‘ ich diesen intellektuellen Schreibtischhockern, die nie Zeit für Aktionen hatten, weil ausgerechnet da immer ein Materialismuskritikkurs stattfand, immer nur gesagt: Wenn Marx Recht hat, muss ich ihn nicht lesen, dann erlebe ich das in der Realität. Und ich hab‘ immer eine noch größere Abneigung gegen autoritäre Menschen, Theorien und Praktiken jeglicher Art gehabt. Ich hab‘ mich damals eigentlich schon eher als radikalliberal oder Radikalhumanist bezeichnet, das heißt, ich war und bin natürlich gegen Ausbeutung und Diskriminierung jeglicher Art und für eine Gesellschaft, in der wirklich jeder Mensch gleiche Chancen hat – also links –, aber ich bin – und das hat mich von autoritären Linken wie autoritären Konservativen gleichermaßen getrennt – radikal gegen staatliche Verbote und Zensur jeglicher Art. Ich bin in den 70er Jahren aufgewachsen und politisch sozialisiert worden, in denen der Staat unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung massiv Freiheitsrechte beschnitten und ein Riesenspitzelsystem aufgebaut hat. Unsere Geschichtsreferendarin wurde entlassen und bekam Berufsverbot, nachdem sie mit uns auf einer Anti-AKW-Demo war. Der Verfassungsschutz versuchte, Schüler-Union-Mitschüler von uns anzuwerben, uns für den VS zu bespitzeln. Sogar die waren darüber so schockiert, dass sie uns das meldeten. Meine Lehre daraus ist, dass man dem Staat niemals mehr Rechte zugestehen darf als unbedingt nötig. Wer heute Demonstrationsverbote für Neonazis fordert, wird sich wundern, wie schnell die gleichen Verbote morgen gegen Linke eingesetzt werden. Die Möglichkeit der Parteiverbote, ins Grundgesetz eingeführt mit dem Hinweis auf die NS-Zeit, hat dann vor allem die KPD getroffen. Also ich glaube, mit mir ist auch heute noch kein Staat zu machen …

Du sagtest eben, Ihr hättet „bisher“ keine Eigenmittel für Eure Forschung. – Wird sich das demnächst ändern? Habt Ihr jetzt doch einen Großsponsor gefunden? Denn die neu gegründete Stiftung bringt Euch ja in den nächsten zehn Jahren vermutlich nichts ein?

Farin: Nein, leider haben wir keinen Großsponsor gefunden. Ich meinte schon die Stiftung. Richtig: Da eine Stiftung nur die Zinsen ihres vorhandenen Kapitals ausgeben darf, müssten wir bei den derzeit niedrigen Zinsen allein 2,5 Millionen Euro auf dem Konto haben, um nur die Miete des Archiv der Jugendkulturen finanzieren zu können. Doch ich gehe davon aus, dass es nicht zehn Jahre dauern wird, bis wir das Geld zusammen haben, sondern höchstens drei Jahre. Ich habe mir dazu auch schon Einiges an Aktionen überlegt.

Ist das nicht etwas zu optimistisch?

Farin: „Verrückt“, sagen die meisten eher, auch hier im Archiv. Aber verrückt war schon die Idee, so ein Archiv überhaupt zu gründen, und aus der Sicht Vieler von vornherein zum Scheitern verurteilt. – Jetzt existieren wir schon 13 Jahre. Verrückt fanden auch eigentlich alle im Archiv die Idee im letzten Sommer, innerhalb von einem halben Jahr 100.000 Euro für die Gründung einer Stiftung zusammen zu bekommen. Nach drei Monaten hatten wir gerade etwas mehr als 20.000 Euro, und ich habe jedem erklärt: Wir schaffen das. Und dann, in den letzten acht Wochen, ging es los. Fast täglich sind mehrere tausend Euro eingegangen. Mehr als 1.300 Menschen und auch zahlreiche Vereine und Institutionen haben uns Geld gespendet, davon rund 900 Leute einen Betrag unter 50 Euro wie der 14- oder 15-jährige Schüler aus Dortmund, der uns zwei Monate jeweils 5 Euro überwiesen hat, ein Viertel seines Taschengeldes. Ich glaube nach wie vor fest daran, dass man Menschen bewegen kann, sich zu engagieren, wenn man ihnen ein sinnvolles Angebot macht und diese Idee selbst authentisch und glaubwürdig und mit eigener Leidenschaft vertritt.

Danke für die offenen Worte!